Die Idee zur Schule unterwegs geht zurück auf den Katastropheneinsatz im Jahr 2007. Damals begannen die regelmässigen Reisen in den südlichen Küstenraum Perus. Die prekäre Situation im Erziehungs- und Bildungsbereich bestärkte das Team von Pro Humanus in der Idee, eine Wanderschule aufzubauen. Eltern und Lehrer erkannten im Erziehungs- und Bildungsmangel ihre eigentliche Notsituation und baten die Mitarbeiter von Pro Humanus um längerfristige Zusammenarbeit. Die Wanderschule soll periodisch – etwa dreimal pro Jahr und Ort – auf sozialer, künstlerischer und pädagogischer Ebene mit den Kindern, ihren Familien und den Lehrern zusammenarbeiten.
Pro Humanus unterstützt eines der erklärten Menschenrechte – nämlich das Recht auf Bildung – und will mit dieser Initiative einen Beitrag leisten zu einer menschen- und altersgemässen Erziehung und Pädagogik, bis in die abgelegensten, stark benachteiligten Regionen des Landes hinein. Die lokalen Lebensbedingungen und Bräuche werden bei der Arbeit miteinbezogen und es wird der ganze Mensch angesprochen, damit er gestärkt auf das Leben vorbereitet werden kann. Dies sind für Pro Humanus Grundlagen für eine zeitgemässe Form von Entwicklungshilfe.
Seit März 2009 wurde die Arbeit in der Küstenregion ausgeweitet auf drei Gemeinden der Hochanden-Region Tayacaja/Huancavelica. Dank der Zusammenarbeit mit der einheimischen, sozialen Organisation ADECAP, welche sich seit Jahrzehnten in den Bereichen Menschenrecht, Gesundheit, Landwirtschaft und Erziehung für die Hochlandgemeinden Huancavelicas einsetzt, hat Pro Humanus dort die Möglichkeit, integriert in die Dorfgemeinschaft direkt innerhalb der staatlichen lokalen Kindergärten und Grundschulen zu arbeiten.
Bettina Vielmetter berichtet: Von Lima, der modernen Weltstadt an der Küste, führt der Weg mit dem Bus schon nach wenigen Kilometern in engen Serpentinen steil hinauf in die Anden. Nach gut drei Stunden überqueren wir den knapp 5000 müM gelegenen Pass, vorausgesetzt, es geht alles gut! Denn beim einen Mal waren es die Schlammlawinen, welche die Strasse verschüttet hatten und uns erst nach zwei Tagen weiterreisen liessen. Das nächste Mal drohte der Nationalstreik der Busfahrer unser Vorhaben zu bremsen. Was man daraus lernt: Eine Lösung der Probleme, welche zum Ziel führt gibt es immer, wenn auch oft auf steinigen Umwegen; es braucht eben nur die nötige Flexibilität.
In den weiten, fruchtbaren Hochanden-Tälern und den harmonisch in die Landschaft eingebetteten Lehmziegeldörfern, wo die Einheimischen noch stark in ihren Traditionen und Ritualen leben und in der alten Quechua-Sprache der Inka mehr zuhause sind als in der Spanischen scheint es, als wären wir in einer anderen Welt angekommen.
Natürlich ist auch diese Welt längst nicht mehr so unberührt von der modernen Zivilisation und Technik. So überrascht uns bespielsweise der Flachbildschirm neben den fast leeren, morschen Regalen des einzigen Dorfladens ….. oder auch die Handy-Antenne, welche zumindest von einem Punkt des 4000m hoch gelegenen Dorfes ab und zu eine Kommunikation mit der Aussenwelt zulässt. Unweit dieser Antenne steht ein alter Weiser, der eben mit seiner magischen Trommel- und Flötenmusik die Bauern begleitet, welche – wie eh und je – in Gemeinschaftsarbeit mit traditionellen Geräten mühsam den Kartoffelacker umgraben.
Gegensätze, Realitäten, welche nebeneinander existieren und mit denen die Indigenas kunstvoll umzugehen wissen, so tief auch die – mindestens seit der Kolonialzeit existierende – soziale Dramatik ist, die sich dahinter verbirgt.
Schulunterricht und Kindergarten beginnen mit dem Absingen der Nationalhymne auf dem Schulhof und einem Marsch zu Militärmusik ins Klassenzimmer. Dort geht es weiter mit dem Einstudieren von Werte- und Verhaltensnormen, die zusätzlich in Form von Spruchbändern überall an die Wände geheftet sind. Ähnlich leer wie diese Wortblasen ist auch der Unterricht an sich; ohne seelische Nahrung, ohne Struktur und Rhythmus. Die Lehrerinnen und Lehrer wurden selbst ähnlich erzogen und später ebenso für ihren Beruf in gleicher Weise ausgebildet.
Umso beglückender und beeindruckender ist es für uns zu erleben, wie unmittelbar die Kinder ansprechen auf Zuwendung im Unterricht, welche nicht viel mehr ist als eine schlicht menschliche, ihrem Alter gemässe.
Da können wir oft zuschauen, wie durch ein leidgeprägtes Kindergesicht – entgegen der schwierigsten Lebensumstände – von einem Moment zum andern ein freudestrahlender, hellwacher und lernbereiter Blick hervorleuchtet.
Meist sind es diese Momente, die am allerwirksamsten auch die Aufmerksamkeit der Eltern und Lehrer wecken und ihre eigene Motivation, etwas ändern zu wollen.
Auf diese Einsicht bauen wir auch unsere Arbeit am Nachmittag. Mit den Lehrern arbeiten wir an menschenkundlichen Grundlagen und didaktischen Fragen und bereiten gemeinsam den nächsten Kindergarten- und Schultag vor.
Was mag im Innern der ErzieherInnen vorgehen, wenn zum ersten Mal zum morgendlichen Formalismus der individuelle Gruss jedes einzelnen Kindes hinzukommt, in welchem sich wenigstens in einem Moment die Blicke von Lehrer und Kind begegnen und zwei Menschen sich gegenseitig wahrnehmen und würdigen?
Um 19 Uhr ist es längst dunkel und der Nachtfrost setzt ein. Für die Eltern und Autoritäten des Dorfes bedeutet es einen enormen Kraftaufwand, nach einem langen, mühsamen Arbeitstag auf dem Feld auch noch zum Elternabend zu kommen. Durch einen Austausch von Liedern der Region und andern Ländern und einem lockeren Dialog der Begegnung zu Beginn kommt aber schnell Offenheit und Fröhlichkeit in die erste Schwere. Praktische Beispiele aus dem Unterricht und gemeinsame Übungen helfen den Eltern, die morgendliche pädagogische Arbeit mit ihren Kindern zu verstehen und diese besser zu begleiten. Der Austausch von Erziehungsfragen und ihren persönlichen Anliegen schafft eine besondere Möglichkeit, die sonst nicht selbstverständlich entsteht.
Mit unserer Arbeit bieten wir keine pädagogische Alternative an, sondern gehen von dem Bestehenden aus, begegnen den Bewohnern innerhalb ihrer Realität und versuchen gemeinsam, aus der Praxis heraus neue, weitertragende Ansätze für Erziehung und Bildung zu finden. Ansätze, welche die Menschen selber umsetzen können und die auch ein hoffnungsvoller Anstoss sein mögen für die Gesamtentwicklung eines Dorfes oder einer Region.
Das ist unsere Hoffnung; Tatsache aber ist, dass wir selber viel lernen und reich beschenkt werden durch die Arbeit und die Menschenbegegnungen.
Wir führen die periodischen Einsätze der „Schule unterwegs“ zunächst in vier Orten je drei Mal pro Jahr durch und planen sie für mindestens drei weitere Jahre. Diese Kontinuität ist nötig, denn erzieherische und soziale Vorgänge vollziehen sich erfahrungsgemäss immer in kleinen Schritten über längere Zeiträume hinweg.
Insgesamt, und vor allem deshalb, weil der peruanische Staat gerade die Erziehung im Land so gut wie nicht unterstützt – wenigsten in den abgelegenen, benachteiligten Regionen – brauchen wir für diese Arbeit Unterstützung und natürlich stärkende Begleitung.
Herzlichen Dank!
Bettina Vielmetter